Warum das letzte Change-Programm wirklich das letzte sein sollte
Es gibt einen Moment in vielen Organisationen, der fast schon ritualisiert ist: Man stellt fest, dass „es so nicht weitergeht“. Die Umsätze stagnieren, die Kultur ist „toxisch“, Nachhaltigkeit wird nur als Pflichtübung gelebt, KI-Projekte laufen an den Menschen vorbei – und dann kommt der große Wurf: das Change-Programm.
Neue Werte, neue Leitbilder, neue Führungsprinzipien. Eine Kampagne, ein Logo, ein Claim. „Wir nehmen alle mit.“ „Wir brechen Silos auf.“ „Wir verändern unsere Kultur.“ Dahinter steckt fast immer dieselbe Fantasie: Eine kleine Gruppe vermeintlich Erleuchteter – Vorstand, Berater, interne Change-Taskforce – hat verstanden, wie die Organisation eigentlich funktionieren müsste. Und jetzt wird dieses Ideal geduldig, aber bestimmt in die Köpfe der anderen hineinerzogen.
Was dabei selten ausgesprochen wird: Jede große Kulturinitiative ist in Wahrheit ein Eingeständnis des Scheiterns. Sie sagt leise: Wir haben es über Jahre nicht geschafft, unsere Organisation so zu führen, dass sie sich selbst erneuern kann. Wir haben es zugelassen, dass das System verkrustet, taub für Rückmeldungen und blind für die eigenen Widersprüche geworden ist. Jetzt brauchen wir den Reset-Knopf.
Change als Ausnahmezustand – nicht als Dauerzustand
Genau deshalb lohnt eine unbequeme These:
Jedes ernst gemeinte Change-Programm sollte nur ein Ziel haben: dafür zu sorgen, dass es nie wieder ein Change-Programm braucht.
Wenn eine Organisation alle drei bis fünf Jahre in den „Veränderungsmodus“ schaltet, ist etwas grundsätzlich faul. Dann ist Veränderung selbst schon wieder als Sonderzustand organisiert: Man friert den Laden halb ein, startet eine Projektarchitektur, kommuniziert „Leitbilder“, schult Führungskräfte und hofft, dass nach zwei Jahren alles „neu“ ist – bis die nächste Welle kommt.
Gesunde Systeme funktionieren anders. Sie leben von kontinuierlichen Mikroveränderungen, kurzen Feedback-Schleifen, kleinen Kurskorrekturen. Sie haben Antennen für Störungen, Spannungen und neue Möglichkeiten. Sie sind resiliente Ökosysteme – nicht starre Maschinen, die man alle paar Jahre mit großem Aufwand umbauen muss.
Resilienz heißt dabei nicht, dass alles bleibt, wie es ist. Im Gegenteil. Resilienz heißt: Die Organisation kann sich verändern und gleichzeitig erkennbar sie selbst bleiben. Sie verliert ihre Identität nicht bei jedem Windstoß, sondern findet neue Formen, in denen sie ihrem Kern treu bleibt. Das ist das Gegenteil von Dauerrevolution von oben.
Die elitäre Versuchung – auch im Namen des Guten
Natürlich gibt es in Unternehmen und Gesellschaft Praktiken, die schlicht destruktiv sind: Ausbeutung, Rassismus, Korruption, verantwortungslose KI-Einführung, Greenwashing. Hier braucht es klare rote Linien, Regulierung, Führung, manchmal auch harte Konsequenzen. Es geht nicht um moralische Beliebigkeit.
Aber genau an dieser Stelle beginnt die elitäre Versuchung:
Wer sich sicher ist, „im Namen des Guten“ zu handeln – für Nachhaltigkeit, Diversität, Klimaschutz, Ethik in der KI –, rutscht gefährlich schnell in ein Muster:
- Wir haben das richtige Mindset.
- Die anderen müssen es nur noch verstehen.
- Wenn sie nicht mitziehen, sind sie rückständig oder blockierend.
Der Übergang von Überzeugungsarbeit zu Umerziehung ist fließend. Und er sieht im Unternehmensalltag gar nicht spektakulär aus. Er kommt als Führungskräfte-Programm, als „Mindset-Training“, als Kulturkampagne. Alles hübsch designt, freundlich formuliert, mit Best Cases und Videos. Doch die Logik ist dieselbe: Eine erleuchtete Minderheit weiß, wie Zukunft geht – der Rest wird passend gemacht.
Was dabei vergessen wird: Menschen sind keine leeren Container für vorgefertigte Bewusstseinsinhalte. Sie sind Akteure in einem komplexen Geflecht von Geschichten, Loyalitäten, Ängsten, Hoffnungen und handfesten Zwängen. Wer das ignoriert, landet – vielleicht ungewollt – in Denkfiguren, die näher an elitärem oder gar totalitärem Denken sind, als es einem lieb sein kann.
Kultur lässt sich nicht designen
Der zentrale Denkfehler der meisten Change-Programme liegt im Kulturverständnis. Kultur wird behandelt wie ein Haus: Man zeichnet einen Plan, formuliert ein Zielbild („so wollen wir miteinander arbeiten“), schreibt Werte an die Wände und baut dann Maßnahmen drumherum.
In der Realität funktioniert Kultur eher wie ein Flussgebiet:
Sie entsteht aus unzähligen kleinen Zuflüssen – Erinnerungen, Routinen, Running Gags, Führungsgesten, informellen Regeln, versteckten Belohnungen und Sanktionen. Sie formt sich über Jahre aus dem, was tatsächlich getan und erzählt wird, nicht aus dem, was in Leitbildern steht.
Ein einziger sichtbar widersprüchlicher Akt – die Nachhaltigkeitschefin, die für den Greenwashing-Kampagnenerfolg belohnt wird, der CEO, der nach außen „Fehlerkultur“ predigt und intern den Boten schlechter Nachrichten abstraft – reicht, um hunderte zynische Anekdoten zu erzeugen. Diese „Wasserkühler-Geschichten“ prägen die Kultur stärker als jede Wertefolie.
Kultur kann man deshalb nicht entwerfen wie ein neues Produkt. Man kann sie nur indirekt beeinflussen: über die Bedingungen, unter denen bestimmte Verhaltensweisen sich lohnen, andere nicht; über die Art, wie Entscheidungen begründet werden; über das, was im Alltag tatsächlich Anerkennung erfährt.
Erst radikal verstehen – dann behutsam eingreifen
Wenn ein System so verkrustet ist, dass es doch ein großes Change-Programm braucht, dann sollte der erste Schritt nicht im Konferenzraum stattfinden, sondern im Alltag der Menschen. Nicht: „Wie soll unsere Kultur sein?“
Sondern: „Wie ist sie wirklich – und warum?“
Das heißt: den Geschichten zuhören, nicht den Slogans. Nicht nach Haltungen fragen („Wie wichtig ist Ihnen Nachhaltigkeit auf einer Skala von 1 bis 10?“), sondern nach konkreten Erlebnissen:
- „Erzählen Sie von einem Moment, in dem Sie gemerkt haben: Hier wird Verantwortung wirklich ernst genommen.“
- „Erzählen Sie von einer Situation, in der Sie das Gefühl hatten: Nachhaltigkeit ist bei uns nur Fassade.“
- „Erzählen Sie von Ihrem ersten Kontakt mit KI im Unternehmen – was ist da passiert?“
Je granularer diese Eindrücke sind, desto deutlicher werden Muster sichtbar: typische Spannungen, wiederkehrende Widersprüche, Bereiche, in denen das System taub geworden ist. Erst dann lohnt es sich, über Interventionen nachzudenken.
Der Schlüssel liegt nicht darin, Menschen „umzuprogrammieren“, sondern die Rahmenbedingungen zu verschieben, innerhalb derer sie handeln. Nicht „Wir brauchen ein neues Mindset“, sondern: Welche Regeln, Anreize, Abläufe, Erwartungen sorgen dafür, dass bestimmte Geschichten immer wieder entstehen? Und wie können wir diese Bedingungen so verändern, dass andere Geschichten plausibel und attraktiv werden?
Fraktale Veränderung statt heroischer Masterplan
Aus dieser Perspektive sieht ernsthafte Transformation überraschend unspektakulär aus. Sie besteht nicht aus einem großen Masterplan, sondern aus vielen kleinen Fragen wie:
- Wie schaffen wir mehr Situationen, in denen ein Team erlebt: „Nachhaltiger zu handeln macht unseren Alltag leichter – statt ihn nur komplizierter zu machen“?
- Wie organisieren wir KI-Einführung so, dass Menschen erleben: „Ich werde nicht ersetzt, sondern befähigt“ – und nicht nur hören, dass das angeblich so sei?
- Wie sorgen wir dafür, dass Führungskräfte in kritischen Momenten sichtbar das tun, was sie predigen – und zwar so, dass andere darüber erzählen?
Veränderung wird fraktal, wenn diese Fragen immer wieder in konkreten Kontexten gestellt werden: im Werk, im Vertrieb, in der IT, im HR-Bereich, in der Filiale. Keine abstrakten Visionen darüber, was „die Organisation“ sein soll, sondern sehr lokale Antworten darauf, wie man morgen etwas anders machen kann. Die Geschichten, die daraus entstehen, beginnen sich zu ähneln – und genau darin richtet sich Kultur neu aus.
Statt das fertige „Endprodukt Kultur“ zu designen, geht es darum, gute Gerüste zu bauen: Strukturen, in denen Teams experimentieren dürfen; Entscheidungswege, in denen Erfahrungen ernst genommen werden; Feedbackschleifen, in denen nicht nur KPI-Tabellen, sondern gelebte Praxis eine Rolle spielen. Aus dem, was sich dort bewährt, wächst ein neues Muster – nicht als Meisterwerk von oben, sondern als lebendiger Prozess von unten und oben zugleich.
Was das für Nachhaltigkeit und KI bedeutet
Übertragen auf Nachhaltigkeit und KI wird der Unterschied brutal sichtbar.
Wer Nachhaltigkeit als moralische Oberaufsicht von oben organisiert, wird Widerstand ernten: „Die da oben machen jetzt Öko, wir sollen es ausbaden.“ Wer KI als Sparprogramm verkleidet, wird Angst ernten: „Meine Erfahrung zählt nichts mehr, der Algorithmus gewinnt sowieso.“ In beiden Fällen sind die formalen Botschaften schnell entlarvt, wenn die Geschichten im Alltag etwas anderes erzählen.
Wenn wir es ernst meinen mit ökologischer Verantwortung und verantwortlicher Digitalisierung, brauchen wir Organisationen, die ständig lernen, sich zu irritieren, sich zu korrigieren. Keine auf Hochglanz polierten Strategien, die alle paar Jahre neu verkündet werden, sondern Systeme, in denen Fehlentwicklungen früh sichtbar werden, in denen Menschen darüber reden dürfen, was schief läuft, ohne Angst vor Gesichtsverlust oder Karriereknick.
Das heißt auch: Die Rolle von Führung ändert sich. Nicht mehr als Architekt der perfekten Zukunft, sondern als Gärtner eines lebendigen, widersprüchlichen Ökosystems. Mit klaren Leitplanken – rechtlich, ethisch, strategisch –, aber mit viel Demut gegenüber der Komplexität der Praxis.
Schluss mit der Arroganz der Erleuchteten
Vielleicht liegt hier die eigentliche Provokation:
Viele Change-Programme scheitern nicht, weil die Ziele falsch wären, sondern weil die Haltung dahinter nicht stimmt.
Solange wir glauben, eine erleuchtete Minderheit könne den Rest „transformieren“, werden wir dieselben Muster wiederholen: große Ankündigungen, schöne Folien, zäher Widerstand, stille Erschöpfung. Und dann, ein paar Jahre später, das nächste Programm.
Der Ausweg beginnt mit einem Perspektivwechsel:
- Weg von der Idee, Kultur sei ein Designobjekt.
- Hin zu der Einsicht, dass Kultur ein emergentes Muster aus vielen kleinen Handlungen und Geschichten ist.
- Weg von elitären Erziehungsfantasien.
- Hin zu einem Verständnis von Führung, das Rahmenbedingungen verändert und das System wieder in die Lage versetzt, sich selbst klug zu verändern.
Das letzte Change-Programm, das eine Organisation startet, sollte genau dieses Ziel haben: sich selbst überflüssig zu machen. Wenn es gelingt, danach keine großen Kulturkampagnen mehr zu brauchen, sondern in den Alltag eingebettete Mikroveränderungen und wache Feedbackschleifen, dann ist der eigentliche Wandel geschafft.
Alles andere ist nur die nächste Welle im Meer der guten Absichten.




Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.