Ein katholischer Blick auf Migration, Gemeinwohl und Nächstenliebe
Wenn in konservativen Debatten über Migration plötzlich Thomas von Aquin auftaucht, lohnt es sich, genauer hinzuschauen. In manchen Texten wird der Doctor Angelicus inzwischen fast wie ein mittelalterlicher Innenminister zitiert: als Kronzeuge dafür, dass Staaten harte Grenzen ziehen, kulturelle Homogenität schützen und Einwanderung streng dosieren dürfen. Der Verweis wirkt zunächst attraktiv – zumal Thomas in der Summa theologiae tatsächlich über „Fremde“ und ihr Verhältnis zu einem Volk nachdenkt. Aber trägt dieser Rückgriff wirklich? Und was passiert, wenn man Thomas nicht isoliert, sondern im Licht der katholischen Soziallehre liest?
Soll heißen: Taugt Thomas von Aquin als Kronzeuge restriktiver Asylpolitik?
TLDR: ja und nein – oder genauer: nur, wenn man ihn richtig verortet, seine Prinzipien ernst nimmt und ihn nicht gegen Evangelium und Soziallehre ausspielt.
Was Thomas tatsächlich sagt – und worüber er überhaupt spricht
Der zentrale Text, auf den sich viele „thomistische“ Migrationsdebatten stützen, findet sich in Summa theologiae I–II, q.105, a.3. Dort fragt Thomas, ob die richterlichen Vorschriften des Mose über Fremde passend sind. Er beginnt mit dem berühmten Satz, die Beziehungen der Menschen zu Fremden seien zweifach – friedlich und feindlich – und das Gesetz habe für beide Arten passende Vorschriften enthalten.
Damit ist schon der erste wichtige Punkt markiert: Thomas kommentiert nicht den modernen Nationalstaat, sondern die theokratische Ordnung Israels unter dem Alten Bund. Er liest die Tora politisch und versucht zu verstehen, warum Israel Fremde unterschiedlich behandelt: Durchreisende, ansässige Fremde, Völker mit einer Geschichte feindlicher Auseinandersetzungen. Die Tora sieht sowohl Schutz und Gastfreundschaft als auch klare Grenzen vor – und Thomas versucht, das mit seiner Naturrechtslehre zu durchdringen.
In dieser Passage hebt er drei Gestalten des Fremden hervor: Reisende, die man gerecht und barmherzig behandeln muss; Fremde, die auf Dauer unter Israel wohnen wollen; und Völker, die aufgrund einer langen Feindschaft nicht in die „politische Gemeinschaft“ aufgenommen werden. Thomas betont, dass das Gesetz vorsah, dass bestimmte Fremde nicht sofort an der Herrschaft teilhaben, „damit nicht Menschen, die das Gemeinwohl noch nicht verinnerlicht haben, leicht etwas Schädliches für das Volk unternehmen“.
Das kann man durchaus als Hinweis darauf lesen, dass politische Gemeinschaft nicht beliebig offen ist, sondern Schutzmechanismen braucht. Aber es bleibt ein historischer Kommentar zum mosaischen Recht – keine fertige Einwanderungsordnung für das 21. Jahrhundert.
Ordo caritatis, politischer Friede und Liebe zum Vaterland
Thomas denkt Migration nicht isoliert, sondern eingebettet in größere Linien seiner Moraltheologie.
Da ist zunächst der berühmte ordo caritatis: die Ordnung der Liebe. In II–II, q.26 entfaltet er, dass Liebe eine Hierarchie hat: Gott steht an erster Stelle, dann folgt die rechte Liebe zu sich selbst, dann die zu den uns Nahestehenden – Familie, Nachbarn, Mitbürger – und von dort aus weitet sich die Liebe auf alle Menschen. Die Nähe in Natur, Glauben oder konkreter Verantwortung begründet abgestufte Pflichten, ohne die universale Nächstenliebe aufzuheben.
In II–II, q.101 ordnet Thomas die Liebe zum Vaterland der Tugend der Pietas zu: Der Mensch schuldet nach Gott zuerst Eltern und Vaterland besonderen Respekt und Dienst. Er vergleicht das mit der Anbetung Gottes: Wie der Gottesdienst zur Religion gehört, so gehört die Ehrfurcht vor Eltern und Heimat zur Pietas. Damit ist klar: Patriotismus – verstanden als dankbare und verantwortliche Liebe zum eigenen Land – hat bei Thomas einen ehrbaren Platz. Nicht Nationalismus, aber eine Pflicht zur Sorge für das eigene Gemeinwesen.
Hinzu kommt sein Verständnis von politischer Gemeinschaft als Form der Freundschaft. Friede ist für ihn nicht bloß Waffenstillstand, sondern „Ruhe der Ordnung“ – eine durch Gerechtigkeit und Eintracht gestiftete Harmonie der Gemeinschaft. Diese Ruhe der Ordnung setzt einen Grundkonsens über Ziele und Normen des Zusammenlebens voraus. Politische Freundschaft erträgt Vielfalt, aber sie braucht gemeinsame Grundlagen.
Wenn man das zusammennimmt, ergibt sich ein relativ klares Bild:
- Fremde sind Träger derselben Würde wie die Einheimischen.
- Die politische Gemeinschaft hat ein Recht und eine Pflicht, ihr Gemeinwohl zu schützen.
- Die Liebe zum Vaterland ist eine Tugend, nicht ein Fehler – aber sie steht unter der Liebe zu Gott und unter der universalen Nächstenliebe.
Aus dieser Perspektive ist Migration für Thomas kein abstraktes Menschenrecht ohne Grenzen, aber auch kein Bedrohungsszenario. Sie ist ein Feld der Klugheit: Hier müssen Regierende das Gemeinwohl, die Integrationsfähigkeit der Gemeinschaft und die konkreten Bedürfnisse von Menschen in Not zusammen denken.
Katholische Soziallehre: Recht zur Migration, Pflicht zur Ordnung
Die Kirche hat diese Linien in der Soziallehre weitergeführt und zugleich deutlich erweitert. Schon Johannes XXIII. spricht in Pacem in terris von einem Recht, das eigene Land aus gerechten Gründen zu verlassen und in anderen Staaten Unterkunft zu suchen. Dieses Recht ist nicht absolut, aber es ist real.
Pius XII. hat in Exsul familia die heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten als Urbild jeder Flüchtlingsfamilie bezeichnet. Die Exilsituation von Jesus, Maria und Josef wird zur Folie für das Verständnis moderner Flüchtlinge, und Migration wird ausdrücklich als natürliches Recht des Menschen beschrieben. Das Schreiben ist deshalb nicht zufällig als „Magna Charta der Migranten“ bezeichnet worden.
Die vielleicht knappe, aber zentrale Zusammenfassung findet sich im Katechismus, §2241. Dort heißt es – sinngemäß –, dass wohlhabendere Nationen „soweit sie dazu imstande sind“ verpflichtet sind, den Fremden aufzunehmen, der bei ihnen Sicherheit und Lebensunterhalt sucht, die er in seinem Herkunftsland nicht findet. Zugleich wird anerkannt, dass politische Autoritäten das Recht haben, die Ausübung dieses Migrationsrechts aus Gründen des Gemeinwohls rechtlich zu regeln. Und: Migranten haben die Pflicht, die materiellen und geistigen Güter des Landes zu achten, seine Gesetze zu respektieren und an den Lasten des Gemeinwesens mitzuwirken.
Das Zweite Vatikanische Konzil betont in Gaudium et spes die Solidarität mit Flüchtlingen und Migranten ausdrücklich und ruft zu internationaler Zusammenarbeit zur Linderung ihrer Not auf. Gleichzeitig fordert es die Völker auf, nationalen Egoismus abzulegen und eine „tiefe Achtung für die ganze Menschheit“ zu pflegen, die auf eine engere Einheit hin unterwegs ist.
Papst Franziskus hat diese Linie in unseren Tagen zugespitzt: Für ihn lässt sich die Antwort der Kirche auf Migration in vier Verben zusammenfassen – aufnehmen, schützen, fördern, integrieren. Die Soziallehre spricht also einerseits deutlich vom Recht der Staaten, Migration zu regulieren – andererseits aber ebenso von einem Recht zu migrieren, von der Pflicht, Schutz zu gewähren, und von einer positiven Vision gelingender Integration.
Thomas als „Borderhawk“? Was man mit ihm begründen kann – und was nicht
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Ausgangsfrage präziser beantworten. In konservativen Kontexten wird Thomas heute gerne als Kronzeuge für eine sehr restriktive Migrationspolitik zitiert. Man greift auf I–II, q.105 a.3 zurück, auf den Gedanken, dass Fremde nicht zu früh an der Herrschaft beteiligt werden sollten, und verbindet das mit dem ordo caritatis, in dem zunächst Familie und Mitbürger vorkommen, bevor der Blick sich auf „die anderen“ weitet. Daraus wird dann eine scheinbar thomistische Schlusslinie: Zuerst die eigenen Leute, dann lange nichts, dann irgendwann der Rest.
Was lässt sich in dieser Richtung tatsächlich mit Thomas begründen?
Man kann mit ihm sehr gut sagen, dass Staaten das Recht und die Pflicht haben, Migration zu ordnen – auch quantitativ. Politische Gemeinschaften sind keine grenzenlosen Abstraktionen; sie leben von Loyalität, von einem gewissen Mindestmaß an gemeinsam geteilten Überzeugungen und von Strukturen, die Integration überhaupt erst ermöglichen. Eine Zuwanderung, die eine Gesellschaft dauerhaft überfordert – sei es sozialstaatlich, sicherheitspolitisch oder kulturell –, wäre mit der Verantwortung für das Gemeinwohl schwer vereinbar. In diesem Sinn ist es thomistisch, über Zahlen, Herkunftszuschnitte, Integrationskonzepte und Geschwindigkeit des Wandels nachzudenken und diese Fragen nicht der reinen Dynamik von Markt, Schlepperwesen und geopolitischer Lage zu überlassen.
Aber ebenso klar ist, was Thomas nicht hergibt. Er liefert keine theologische Legitimation für Pauschalängste, für die Abwertung ganzer Religionsgemeinschaften oder für einen Nationalismus, der das Vaterland faktisch an die Stelle Gottes setzt. Sein ordo caritatis beginnt bei Gott, nicht bei der Nation. Und die hierarchische Ordnung der Liebe soll die Verantwortung sortieren, nicht Menschen in „vollwertig“ und „verzichtbar“ einteilen.
Wer Thomas zitiert, um daraus eine Haltung des Abblockens gegenüber allen Formen von Flucht und Einwanderung zu begründen, liest ihn selektiv. Wer seine Auslegung des mosaischen Gesetzes im Alten Bund 1:1 auf einen säkularen Verfassungsstaat überträgt, übersieht, dass Thomas selbst diese Vorschriften als zeitgebundene Anwendungen versteht: Das Naturrecht bleibt, die konkreten richterlichen Regeln können sich ändern. Und wer dabei die Soziallehre ausblendet, macht aus einem Kirchenlehrer einen Parteigänger, den er so nie sein wollte.
Was bedeutet das für uns?
Gerade in Deutschland wäre es unehrlich, so zu tun, als gäbe es nur abstrakte Prinzipien, aber keine konkreten Spannungen. Unsere Migration der letzten Jahre ist weder kulturell noch religiös „neutral“, sondern stark konzentriert auf bestimmte Herkunftsregionen – häufig mit arabischem oder mehrheitlich muslimischem Hintergrund. Man muss kein Kulturkämpfer sein, um zu sehen, dass das die kulturelle und religiöse Gestalt unseres Landes verändert: in Schulen, in Stadtvierteln, in der öffentlichen Debatte und langfristig auch im religiösen Leben.
Es gibt reale Probleme – von Parallelstrukturen über Fragen von Religionsfreiheit, Antisemitismus und Frauenrechten bis hin zu Sicherheitsfragen –, und es gibt legitime Sorgen, ob Tempo und Umfang der Aufnahme mit unseren Integrationskapazitäten Schritt halten.
Dem gegenüber stehen reale Bedürfnisse am Arbeitsmarkt, die allerdings auch mit der oft illegalen Migration (noch) nicht befriedigt werden. Zudem wird von den tiefer liegenden Gründen und Ursachen für diese Lücke, die in den Fehlern der Familien- Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnten zu suchen sind, kaum gesprochen.
Dazu kommt eine quantitative Dimension: Jede Gesellschaft hat begrenzte Aufnahme- und Integrationskraft. Wenn in relativ kurzer Zeit sehr viele Menschen aus kulturell und religiös stark anders geprägten Kontexten zuwandern, steigen die Anforderungen an Politik, Schulen, Gemeinden und Sicherheitsbehörden massiv.
Dazu etwas zu sagen, ist nicht automatisch „rechts“ oder fremdenfeindlich. Es ist zunächst einmal eine nüchterne Beschreibung von Spannungen, die man weder wegromantisieren noch skandalisierend aufblasen sollte. Gerade hier hilft Thomas, die Gedanken zu ordnen. Seine Idee der politischen Freundschaft nimmt ernst, dass ein Gemeinwesen gewisse gemeinsame Grundlagen braucht: Anerkennung von Menschenwürde und Rechtsordnung, ein Mindestmaß an Kompatibilität im Verständnis von Gewalt, Religionsfreiheit und Verhältnis von Religion und Staat. Wo größere Gruppen aus Milieus kommen, in denen diese Fragen anders beantwortet werden, entstehen Konflikte, die bearbeitet werden müssen – intellektuell, politisch und pastoral.
Gleichzeitig zwingt uns der ordo caritatis, zwischen Personen und Strukturen zu unterscheiden. Dass Migrationspolitik schlecht gesteuert ist, macht die Menschen, die kommen, nicht zu Gegnern. Sie bleiben Nächste, mit denen wir – ob wir wollen oder nicht – vor Gott gemeinsam Geschichte machen. Und sie sind in vielen Fällen selbst Opfer von Krieg, Verfolgung, Zerfall ihrer Heimatländer und ökonomischer Destruktion.
Hier zeigt sich, wie anspruchsvoll eine wirklich katholische Position ist:
Sie muss zugleich die Verantwortung für das eigene Gemeinwesen wahrnehmen – inklusive der Pflicht, kulturelle und religiöse Grundlagen nicht leichtfertig zu verspielen – und die Würde jedes einzelnen Migranten schützen. Sie darf weder in naive Grenzenlosigkeit noch in zynische Abschottung kippen.
Ein „Jein“ mit klarer Richtung
Zurück zur Ausgangsfrage: Taugt Thomas von Aquin als Kronzeuge restriktiver Asylpolitik?
Man kann sagen: Er taugt als Zeuge dafür, dass Staaten ein legitimes Recht haben, Migration zu regulieren und zu begrenzen, wenn dies dem Gemeinwohl dient. Er taugt als Zeuge dafür, dass das Band zum eigenen Volk und die Liebe zum Vaterland ernst zu nehmen sind. Und er taugt als Zeuge dafür, dass politischer Friede mehr ist als Wohlfühlrhetorik: Er setzt Ordnung, Maß und realistische Einschätzung menschlicher Konflikte voraus.
Er taugt nicht als Kronzeuge für Politik, die Migranten primär als Bedrohung oder Belastung sieht, die universale Dimension der Nächstenliebe relativiert oder mit dem ordo caritatis eine Hierarchie des Wertes von Menschen begründen will. Und er taugt erst recht nicht als Legitimation einer Rhetorik, die Muslime pauschal zum Problem erklärt.
Eine katholische Lektüre müsste daher anders aussehen:
– Sie nimmt Thomas’ Ernstfall des Gemeinwohls und der politischen Freundschaft auf.
– Sie liest ihn gemeinsam mit Pacem in terris, Exsul familia, Gaudium et spes, dem Katechismus und der jüngeren Lehre der Päpste.
– Sie räumt ein, dass es legitime Debatten über Umfang, Tempo und Zusammensetzung von Migration gibt – und dass man vor kulturellen und religiösen Verschiebungen nicht die Augen verschließen muss.
– Sie hält zugleich daran fest, dass jeder Mensch – auch der ohne Papiere, mit Kopftuch oder aus einem „fremden“ Kulturkreis – im Bild Gottes geschaffen ist und einen Anspruch auf Achtung und Schutz seiner Würde hat.
In diesem Sinne ist Thomas kein Schlagwortlieferant für einen Lagerkampf, sondern ein unbequemer Lehrmeister: Er zwingt uns, Spannungen auszuhalten, die eigene Verantwortung nicht romantisch zu verkürzen – und im Fremden nicht zuerst den Gegner, sondern den Nächsten zu sehen. Genau das ist die eigentliche Stärke einer christlich-katholischen Position in der Migrationsdebatte.
