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Die Arroganz der Erleuchteten

Warum das letzte Change-Programm wirklich das letzte sein sollte

Es gibt einen Moment in vielen Organisationen, der fast schon ritualisiert ist: Man stellt fest, dass „es so nicht weitergeht“. Die Umsätze stagnieren, die Kultur ist „toxisch“, Nachhaltigkeit wird nur als Pflichtübung gelebt, KI-Projekte laufen an den Menschen vorbei – und dann kommt der große Wurf: das Change-Programm.

Neue Werte, neue Leitbilder, neue Führungsprinzipien. Eine Kampagne, ein Logo, ein Claim. „Wir nehmen alle mit.“ „Wir brechen Silos auf.“ „Wir verändern unsere Kultur.“ Dahinter steckt fast immer dieselbe Fantasie: Eine kleine Gruppe vermeintlich Erleuchteter – Vorstand, Berater, interne Change-Taskforce – hat verstanden, wie die Organisation eigentlich funktionieren müsste. Und jetzt wird dieses Ideal geduldig, aber bestimmt in die Köpfe der anderen hineinerzogen.

Was dabei selten ausgesprochen wird: Jede große Kulturinitiative ist in Wahrheit ein Eingeständnis des Scheiterns. Sie sagt leise: Wir haben es über Jahre nicht geschafft, unsere Organisation so zu führen, dass sie sich selbst erneuern kann. Wir haben es zugelassen, dass das System verkrustet, taub für Rückmeldungen und blind für die eigenen Widersprüche geworden ist. Jetzt brauchen wir den Reset-Knopf.

Change als Ausnahmezustand – nicht als Dauerzustand

Genau deshalb lohnt eine unbequeme These:

Jedes ernst gemeinte Change-Programm sollte nur ein Ziel haben: dafür zu sorgen, dass es nie wieder ein Change-Programm braucht.

Wenn eine Organisation alle drei bis fünf Jahre in den „Veränderungsmodus“ schaltet, ist etwas grundsätzlich faul. Dann ist Veränderung selbst schon wieder als Sonderzustand organisiert: Man friert den Laden halb ein, startet eine Projektarchitektur, kommuniziert „Leitbilder“, schult Führungskräfte und hofft, dass nach zwei Jahren alles „neu“ ist – bis die nächste Welle kommt.

Gesunde Systeme funktionieren anders. Sie leben von kontinuierlichen Mikroveränderungen, kurzen Feedback-Schleifen, kleinen Kurskorrekturen. Sie haben Antennen für Störungen, Spannungen und neue Möglichkeiten. Sie sind resiliente Ökosysteme – nicht starre Maschinen, die man alle paar Jahre mit großem Aufwand umbauen muss.

Resilienz heißt dabei nicht, dass alles bleibt, wie es ist. Im Gegenteil. Resilienz heißt: Die Organisation kann sich verändern und gleichzeitig erkennbar sie selbst bleiben. Sie verliert ihre Identität nicht bei jedem Windstoß, sondern findet neue Formen, in denen sie ihrem Kern treu bleibt. Das ist das Gegenteil von Dauerrevolution von oben.

Die elitäre Versuchung – auch im Namen des Guten

Natürlich gibt es in Unternehmen und Gesellschaft Praktiken, die schlicht destruktiv sind: Ausbeutung, Rassismus, Korruption, verantwortungslose KI-Einführung, Greenwashing. Hier braucht es klare rote Linien, Regulierung, Führung, manchmal auch harte Konsequenzen. Es geht nicht um moralische Beliebigkeit.

Aber genau an dieser Stelle beginnt die elitäre Versuchung:

Wer sich sicher ist, „im Namen des Guten“ zu handeln – für Nachhaltigkeit, Diversität, Klimaschutz, Ethik in der KI –, rutscht gefährlich schnell in ein Muster:

  • Wir haben das richtige Mindset.
  • Die anderen müssen es nur noch verstehen.
  • Wenn sie nicht mitziehen, sind sie rückständig oder blockierend.

Der Übergang von Überzeugungsarbeit zu Umerziehung ist fließend. Und er sieht im Unternehmensalltag gar nicht spektakulär aus. Er kommt als Führungskräfte-Programm, als „Mindset-Training“, als Kulturkampagne. Alles hübsch designt, freundlich formuliert, mit Best Cases und Videos. Doch die Logik ist dieselbe: Eine erleuchtete Minderheit weiß, wie Zukunft geht – der Rest wird passend gemacht.

Was dabei vergessen wird: Menschen sind keine leeren Container für vorgefertigte Bewusstseinsinhalte. Sie sind Akteure in einem komplexen Geflecht von Geschichten, Loyalitäten, Ängsten, Hoffnungen und handfesten Zwängen. Wer das ignoriert, landet – vielleicht ungewollt – in Denkfiguren, die näher an elitärem oder gar totalitärem Denken sind, als es einem lieb sein kann.

Kultur lässt sich nicht designen

Der zentrale Denkfehler der meisten Change-Programme liegt im Kulturverständnis. Kultur wird behandelt wie ein Haus: Man zeichnet einen Plan, formuliert ein Zielbild („so wollen wir miteinander arbeiten“), schreibt Werte an die Wände und baut dann Maßnahmen drumherum.

In der Realität funktioniert Kultur eher wie ein Flussgebiet:

Sie entsteht aus unzähligen kleinen Zuflüssen – Erinnerungen, Routinen, Running Gags, Führungsgesten, informellen Regeln, versteckten Belohnungen und Sanktionen. Sie formt sich über Jahre aus dem, was tatsächlich getan und erzählt wird, nicht aus dem, was in Leitbildern steht.

Ein einziger sichtbar widersprüchlicher Akt – die Nachhaltigkeitschefin, die für den Greenwashing-Kampagnenerfolg belohnt wird, der CEO, der nach außen „Fehlerkultur“ predigt und intern den Boten schlechter Nachrichten abstraft – reicht, um hunderte zynische Anekdoten zu erzeugen. Diese „Wasserkühler-Geschichten“ prägen die Kultur stärker als jede Wertefolie.

Kultur kann man deshalb nicht entwerfen wie ein neues Produkt. Man kann sie nur indirekt beeinflussen: über die Bedingungen, unter denen bestimmte Verhaltensweisen sich lohnen, andere nicht; über die Art, wie Entscheidungen begründet werden; über das, was im Alltag tatsächlich Anerkennung erfährt.

Erst radikal verstehen – dann behutsam eingreifen

Wenn ein System so verkrustet ist, dass es doch ein großes Change-Programm braucht, dann sollte der erste Schritt nicht im Konferenzraum stattfinden, sondern im Alltag der Menschen. Nicht: „Wie soll unsere Kultur sein?“

Sondern: „Wie ist sie wirklich – und warum?“

Das heißt: den Geschichten zuhören, nicht den Slogans. Nicht nach Haltungen fragen („Wie wichtig ist Ihnen Nachhaltigkeit auf einer Skala von 1 bis 10?“), sondern nach konkreten Erlebnissen:

  • „Erzählen Sie von einem Moment, in dem Sie gemerkt haben: Hier wird Verantwortung wirklich ernst genommen.“
  • „Erzählen Sie von einer Situation, in der Sie das Gefühl hatten: Nachhaltigkeit ist bei uns nur Fassade.“
  • „Erzählen Sie von Ihrem ersten Kontakt mit KI im Unternehmen – was ist da passiert?“

Je granularer diese Eindrücke sind, desto deutlicher werden Muster sichtbar: typische Spannungen, wiederkehrende Widersprüche, Bereiche, in denen das System taub geworden ist. Erst dann lohnt es sich, über Interventionen nachzudenken.

Der Schlüssel liegt nicht darin, Menschen „umzuprogrammieren“, sondern die Rahmenbedingungen zu verschieben, innerhalb derer sie handeln. Nicht „Wir brauchen ein neues Mindset“, sondern: Welche Regeln, Anreize, Abläufe, Erwartungen sorgen dafür, dass bestimmte Geschichten immer wieder entstehen? Und wie können wir diese Bedingungen so verändern, dass andere Geschichten plausibel und attraktiv werden?

Fraktale Veränderung statt heroischer Masterplan

Aus dieser Perspektive sieht ernsthafte Transformation überraschend unspektakulär aus. Sie besteht nicht aus einem großen Masterplan, sondern aus vielen kleinen Fragen wie:

  • Wie schaffen wir mehr Situationen, in denen ein Team erlebt: „Nachhaltiger zu handeln macht unseren Alltag leichter – statt ihn nur komplizierter zu machen“?
  • Wie organisieren wir KI-Einführung so, dass Menschen erleben: „Ich werde nicht ersetzt, sondern befähigt“ – und nicht nur hören, dass das angeblich so sei?
  • Wie sorgen wir dafür, dass Führungskräfte in kritischen Momenten sichtbar das tun, was sie predigen – und zwar so, dass andere darüber erzählen?

Veränderung wird fraktal, wenn diese Fragen immer wieder in konkreten Kontexten gestellt werden: im Werk, im Vertrieb, in der IT, im HR-Bereich, in der Filiale. Keine abstrakten Visionen darüber, was „die Organisation“ sein soll, sondern sehr lokale Antworten darauf, wie man morgen etwas anders machen kann. Die Geschichten, die daraus entstehen, beginnen sich zu ähneln – und genau darin richtet sich Kultur neu aus.

Statt das fertige „Endprodukt Kultur“ zu designen, geht es darum, gute Gerüste zu bauen: Strukturen, in denen Teams experimentieren dürfen; Entscheidungswege, in denen Erfahrungen ernst genommen werden; Feedbackschleifen, in denen nicht nur KPI-Tabellen, sondern gelebte Praxis eine Rolle spielen. Aus dem, was sich dort bewährt, wächst ein neues Muster – nicht als Meisterwerk von oben, sondern als lebendiger Prozess von unten und oben zugleich.

Was das für Nachhaltigkeit und KI bedeutet

Übertragen auf Nachhaltigkeit und KI wird der Unterschied brutal sichtbar.

Wer Nachhaltigkeit als moralische Oberaufsicht von oben organisiert, wird Widerstand ernten: „Die da oben machen jetzt Öko, wir sollen es ausbaden.“ Wer KI als Sparprogramm verkleidet, wird Angst ernten: „Meine Erfahrung zählt nichts mehr, der Algorithmus gewinnt sowieso.“ In beiden Fällen sind die formalen Botschaften schnell entlarvt, wenn die Geschichten im Alltag etwas anderes erzählen.

Wenn wir es ernst meinen mit ökologischer Verantwortung und verantwortlicher Digitalisierung, brauchen wir Organisationen, die ständig lernen, sich zu irritieren, sich zu korrigieren. Keine auf Hochglanz polierten Strategien, die alle paar Jahre neu verkündet werden, sondern Systeme, in denen Fehlentwicklungen früh sichtbar werden, in denen Menschen darüber reden dürfen, was schief läuft, ohne Angst vor Gesichtsverlust oder Karriereknick.

Das heißt auch: Die Rolle von Führung ändert sich. Nicht mehr als Architekt der perfekten Zukunft, sondern als Gärtner eines lebendigen, widersprüchlichen Ökosystems. Mit klaren Leitplanken – rechtlich, ethisch, strategisch –, aber mit viel Demut gegenüber der Komplexität der Praxis.

Schluss mit der Arroganz der Erleuchteten

Vielleicht liegt hier die eigentliche Provokation:

Viele Change-Programme scheitern nicht, weil die Ziele falsch wären, sondern weil die Haltung dahinter nicht stimmt.

Solange wir glauben, eine erleuchtete Minderheit könne den Rest „transformieren“, werden wir dieselben Muster wiederholen: große Ankündigungen, schöne Folien, zäher Widerstand, stille Erschöpfung. Und dann, ein paar Jahre später, das nächste Programm.

Der Ausweg beginnt mit einem Perspektivwechsel:

  • Weg von der Idee, Kultur sei ein Designobjekt.
  • Hin zu der Einsicht, dass Kultur ein emergentes Muster aus vielen kleinen Handlungen und Geschichten ist.
  • Weg von elitären Erziehungsfantasien.
  • Hin zu einem Verständnis von Führung, das Rahmenbedingungen verändert und das System wieder in die Lage versetzt, sich selbst klug zu verändern.

Das letzte Change-Programm, das eine Organisation startet, sollte genau dieses Ziel haben: sich selbst überflüssig zu machen. Wenn es gelingt, danach keine großen Kulturkampagnen mehr zu brauchen, sondern in den Alltag eingebettete Mikroveränderungen und wache Feedbackschleifen, dann ist der eigentliche Wandel geschafft.

Alles andere ist nur die nächste Welle im Meer der guten Absichten.

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Mehr als nur Regeln: 5 zeitlose Einsichten, die Ihre Sicht auf Gut und Böse verändern werden

Jenseits von Regeln und Werten

In unserer modernen Welt gleicht die Suche nach dem „richtigen“ Handeln oft einem Navigieren durch dichten Nebel – ob in Führungsetagen, Strategiemeetings oder persönlichen Entscheidungen. Wir schwanken zwischen starren Regelwerken, die uns sagen, was wir tun und lassen sollen, dem subjektiven Kompass unserer Gefühle und dem ständigen Druck gesellschaftlicher Erwartungen. Was ist wirklich gut? Das, was sich richtig anfühlt? Das, was die Mehrheit tut? Oder das, was in einem Gesetzbuch steht?

Inmitten dieser Verwirrung bietet der Philosoph Josef Pieper einen erfrischend klaren, alternativen Weg an – eine Ethik, die nicht auf willkürlichen Vorschriften oder flüchtigen Meinungen beruht, sondern auf der Wirklichkeit selbst.

Pieper, tief verwurzelt im Denken von Thomas von Aquin und Aristoteles, fordert uns auf, unseren Blick von uns selbst abzuwenden und ihn auf die Welt zu richten, wie sie ist. Dieser Artikel stellt fünf seiner überraschendsten und wirkungsvollsten Ideen vor, die unsere gängigen Vorstellungen von Moral herausfordern und einen neuen, stabileren Grund für das gute Leben aufzeigen.


Die 5 überraschenden Einsichten von Josef Pieper

Das Gute ist nicht, was wir sollen – es ist, was wirklich ist.

Piepers Ethik ruht auf einem einzigen, fundamentalen Leitsatz: „Alles Sollen gründet im Sein“. Das bedeutet, dass eine Handlung nicht deshalb gut ist, weil sie befohlen wird oder weil wir sie tun sollen. Sie ist gut, weil sie der objektiven Realität entspricht. Pieper nennt dies das „Wirklichkeitsgemäße“.

Um gut zu handeln, müssen wir unseren Blick nicht nach innen auf unser Gewissen, unsere selbstgesetzten Ideale oder subjektive „Werte“ richten, sondern nach außen auf die objektive Seinswelt. Für Pieper ist diese Wirklichkeit nicht willkürlich oder chaotisch; sie ist normativ, weil sie das objektive Abbild eines guten, göttlichen Schöpfungsplanes ist. Gutes Handeln ist demnach die Fortführung dessen, was in der Natur der Dinge bereits angelegt ist.

Diese Idee ist radikal, weil sie die Grundlage der Ethik von menschlichen Meinungen und Willensentscheidungen auf die objektive Welt verlagert. In einer Zeit, in der „Unternehmenswerte“ oft zu hohlen Phrasen verkommen und Entscheidungen zwischen konkurrierenden Interessen zerrieben werden, ist diese Rückbesinnung auf die Wirklichkeit selbst revolutionär. Sie steht im direkten Gegensatz zum „Moralismus“, der Haltung, dass etwas gut ist, nur weil es als Pflicht vorgeschrieben ist. Für Pieper ist das Gute nicht willkürlich, sondern in der Struktur der Realität selbst verankert.

Klugheit ist keine Vorsicht, sondern die Mutter aller Tugenden.

Wenn wir heute von Klugheit sprechen, meinen wir oft vorsichtiges Abwägen oder schlaues Taktieren. Pieper versteht unter der Tugend der Klugheit (Prudentia) etwas viel Grundlegenderes.

Wenn das Gute dem Wirklichen entspricht, dann ist die Klugheit das entscheidende Instrument, mit dem wir diese Wirklichkeit überhaupt erst erfassen. Sie ist die Fähigkeit, die Realität klar und unvoreingenommen zu sehen und entsprechend zu handeln – ein offener, sachlicher „Hin-Blick auf die Wirklichkeit“. Aus diesem Grund gibt Pieper ihr den absoluten Vorrang; er nennt sie die „Ursache, Wurzel, ‚Gebärerin‘, Maß, Richtschnur und Formgrund“ aller anderen Tugenden. Während die Klugheit das Gute bestimmt, ist es „die Sache selbst“ – die objektiven Fakten der Situation –, die bestimmt, was klug ist.

Dies ist überraschend, da wir Tugenden wie Gerechtigkeit oder Mut oft intuitiv höher einschätzen. Doch jede Strategie, jede Vision, jeder noch so gute Wille bleibt wertlos ohne den klaren Blick auf das, was ist. Pieper argumentiert, dass diese ohne einen klaren, klugen Blick auf die Realität wertlos oder sogar schädlich sein können. Ein mutiger Akt ohne Bezug zur Wirklichkeit ist bloße Tollkühnheit; eine gerechte Absicht ohne Kenntnis der Fakten kann zu größtem Unrecht führen.

Keine sittliche Tugend ist möglich ohne die Klugheit.

Richtig sein ist wichtiger als richtig handeln.

Die moderne Ethik konzentriert sich fast ausschließlich auf das Tun und Lassen. Sie gibt uns Gebote und Verbote und bewertet unsere Handlungen. Pieper kritisiert diese Engführung und stellt ihr ein anderes Ziel voran: Das primäre Ziel der Ethik ist das richtige Sein des Menschen.

Es geht nicht in erster Linie darum, gute Taten anzuhäufen, sondern darum, ein guter Mensch zu werden. Tugend ist für ihn eine „seinsmäßige Erhöhung der menschlichen Person“; sie bedeutet, dass der Mensch selbst „richtig ‚ist'“.

Dieser Gedanke verlagert den Fokus von äußerlichen Handlungen zu innerer Haltung und Charakterbildung. Es geht um die Qualität der Person, die entscheidet – nicht nur um die Qualität der Entscheidung. Dieses richtige Sein ist die tiefste Form der „Wirklichkeitsgemäßheit“ – ein Zustand, in dem der Charakter einer Person so mit der objektiven Realität harmoniert, dass gute Taten zu einer natürlichen Konsequenz werden.

Anstatt uns nur zu fragen: „Was soll ich tun?“, lädt uns Pieper ein, zuerst zu fragen: „Wer will ich sein?“

Selbstbeherrschung führt zu mehr Genuss, nicht zu weniger.

Die Tugend des Maßes (Temperantia) wird oft als freudlose Enthaltsamkeit missverstanden. Pieper zeichnet ein völlig anderes, radikaleres Bild. Entgegen einem puritanischen Missverständnis betont er, dass die natürlichen Triebe zum Genuss – Essen, Trinken, Sexualität – an sich gut sind. Das Maß ist für ihn die Verwirklichung innerer Ordnung, eine „selbstlose Selbstbewahrung“.

Und hier kommt das Paradox: Diese innere Ordnung führt nicht zu einer Minderung, sondern zur „Steigerung der sinnlichen Freude“.

Der Grund dafür ist, dass Unbeherrschtheit unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit verzerrt. Sie führt zu einer „Blindheit des Geistes“, die den Blick auf sich selbst lenkt und trübt. Der Unbeherrschte kann die Schönheit der Realität – sei es ein gutes Essen, ein Kunstwerk oder ein anderer Mensch – nicht mehr selbstlos und klar wahrnehmen.

Selbstbeherrschung ist also eine Voraussetzung für jene Klugheit, die es braucht, um die Welt so zu erkennen und zu genießen, wie sie wirklich ist. Wer sich selbst nicht führen kann, kann auch sonst nicht klar sehen.

Gerechtigkeit allein ist grausam.

Pieper definiert Gerechtigkeit klassisch als den standhaften Willen, „einem Jeden sein Recht zuerkennt“. Sie ist die Tugend, die Ordnung in die Welt außerhalb der Person bringt. Doch so fundamental sie auch ist, Pieper zeigt klar ihre Grenzen auf.

Eine Welt, die ausschließlich auf Gerechtigkeit basiert, wäre keine gute Welt. Er bringt es mit einem kraftvollen Satz auf den Punkt, der eine rein legalistische oder algorithmische Sicht auf Ethik erschüttert:

„Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit“

Warum? Weil Barmherzigkeit keine willkürliche Ergänzung ist, sondern selbst der Wirklichkeit entspricht. Sie erkennt eine tiefere Realität an, die eine rein mathematische Gerechtigkeit ignoriert: die Realität der menschlichen Fehlbarkeit, unserer gemeinsamen Zerbrechlichkeit und unseres Bedürfnisses nach Vergebung.

In diesem Sinne ist Barmherzigkeit sogar „wirklichkeitsgemäßer“ als die Gerechtigkeit allein. Sie erinnert uns daran, dass eine menschliche Gesellschaft – und jede Organisation ist letztlich eine menschliche Gesellschaft – Qualitäten erfordert, die über das reine Geben dessen, was geschuldet wird, hinausgehen.


Den Blick auf die Wirklichkeit richten

Die fünf Einsichten von Josef Pieper laufen auf eine zentrale Botschaft hinaus: Ein gutes, tugendhaftes und letztlich glückliches Leben ist ein Leben, das in Harmonie mit der objektiven Wirklichkeit geführt wird.

Anstatt uns in den Widersprüchen unserer subjektiven Gefühle oder im Labyrinth menschengemachter Regeln zu verlieren, lädt er uns ein, einen Schritt zurückzutreten und die Welt so zu sehen, wie sie ist. Pieper gibt uns eine Landkarte, auf der die Klugheit der Kompass ist, der auf die Wirklichkeit zeigt, während Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß die Fähigkeiten sind, die wir zur Bewältigung des Geländes benötigen – alles im Streben danach, nicht nur Gutes zu tun, sondern ein guter Mensch zu sein.

Das Gute ist keine Erfindung, sondern eine Entdeckung.

Was würde sich in Ihrem Leben – und in Ihrer Führung – ändern, wenn Sie bei jeder Entscheidung zuerst fragen würden: „Was ist die Realität der Situation?“ anstatt „Was soll ich tun?“


Über diese Artikelserie

In meiner Arbeit als Berater und Speaker beschäftige ich mich damit, wie zeitlose philosophische Prinzipien konkrete Orientierung in komplexen Entscheidungssituationen bieten können. Philosophie ist für mich kein akademisches Glasperlenspiel, sondern ein Werkzeug zur Klärung – zur Klärung dessen, was wirklich ist, und dessen, wer wir sein wollen.

Wenn Sie interessiert, wie sich diese Gedanken auf Ihre spezifische Situation übertragen lassen, freue ich mich auf den Austausch.

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Workshop „Interne Nachhaltigkeits-Kommunikation“ auf der BAUM Jahrestagung

Ich freue mich sehr, dass ich als Mitglied des Kuratoriums Wissenschaft des B.A.U.M. e.V. auf der Jahrestagung in Freiburg i.B. am 21./22.11.dabei sein darf. Gemeinsam mit Dr. Katrin Wippich vom BAUM e.V. darf ich mich einem meiner Schwerpunktthemen widmen, der Internen Kommunikation von Nachhaltigkeit. Wer noch nicht angemeldet ist, sollte dies tun – die Konferenz ist vollgepackt mit guten Themen und hervorragenden ReferentenInnen. Anbei die Beschreibung des Events. Hier gehts zur Anmeldung und Info.Link

Vorstellung Workshop:

Transformation zur Nachhaltigkeit geht nicht ohne gute interne Kommunikation. Wahrnehmung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette, Klimaschutz bis Scope 3, CDR – all dies macht Mühe und kann nur Erfolg haben, wenn es gelingt, die Mitarbeitenden einzubinden und mit ihnen in einen ko-kreativen Diskurs zu treten.

Dr. Riccardo Wagner Professor für Marketing und Unternehmenskommunikation an der Fresenius Hochschule Köln und Mitglied des Kuratoriums Wissenschaft von B.A.U.M., gibt eine Einführung in das Thema und leitet durch den Workshop:

  • Wie lassen sich Passivität oder Widerstände bei den Mitarbeitenden überwinden?
  • Welche Inhalte wirken Sinn stiftend?
  • Was sind geeignete Formate für interne CSR-Kommunikation?

B.A.U.M.-Mitglieder ergänzen die einzelnen Aspekte mit kurzen Impulsen aus ihrer Praxis. Ziel des Workshops ist ein lebendiger Erfahrungsaustausch unter den Teilnehmenden und die gemeinsame Erarbeitung von Lösungsansätzen.

Moderation: Dr. Katrin Wippich (Medienreferentin, B.A.U.M. e.V.)

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Interview: Nachhaltig Führen in Marketing und Vertrieb

Seit einiger Zeit leite ich die Entwicklung des Trainingsmodules „Marketing und Vertrieb“ für das Projekt „Nachhaltig-Erfolgreich-Führen“ der DIHK Bildungs-GmbH. Für den Blog des Projektes habe ich ein Interview gegeben, dass Sie hier abrufen können.

Für Eilige, hier das Interview:

Lieber Professor Dr. Wagner, Sie sind als Modulleitender gemeinsam mit Anne Kathrin Kirchhoff und Antje Meyer verantwortlich für die Entwicklung des Moduls „Marketing/Vertrieb“. Worauf fokussieren Sie hier besonders?
Ich bin seit Langem dem Team der DIHK-Bildungs-GmbH verbunden. Durch unseren steten Austausch war ich mit der Idee eines Management-Trainings früh im Austausch über die Frage: Woran liegt es, dass Nachhaltigkeit so schwer im Unternehmen zu verankern ist, obwohl eigentlich alle wissen, dass es sein muss? Wo liegen die Hürden? Aus eigener Erfahrung konnte ich die Grundanalyse stützen: „Wir haben immer noch Mauern im Unternehmen.“ Und die wollen wir überwinden.

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CSR & Leadership: Nachhaltigkeit für Marketing und Vertrieb

Seit einigen Monaten habe ich das Vergnügen für das Projekt der DIHK-Bildungs GmbH „Nachhaltig-Erfolgreich-Führen“, welches sich mit der Entwicklung von Managment-Nachhaltigkeitstrainings befasst, das Modul Marketing und Vertrieb zu leiten.
Nun habe ich für den Blog des Projektes ein Interview gegeben, indem ich die Inhalte und Ziele des Modules genauer vorstelle. Hier gehts zum Interview. Link.

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Interne Kommunikation zu Nachhaltigkeit oft zu formelhaft

Sie haben in einer Studie untersucht, wie Unternehmen mit guter interner Kommunikation Mitarbeiter für Nachhaltigkeit begeistern können. Was bedeuten in diesem Zusammenhang die Begriffe Sensemaking und Sensegiving?